„Lagune“ von Nnedi Okorafor
„Lagune“, der erste Band einer Triologie der in den USA geborenen Autorin Okorafor, wartet mit mehreren Besonderheiten auf, die selbst mich als fast lebenslangen Science Fiction-Fan noch überraschen konnten. Okay, Invasionsgeschichten gibt es wie den sprichwörtlichen Sand am Meer, und an Gruppen teils unfreiwilliger Helden, an denen sich das Schicksal der Welt entscheidet, herrscht in der SF und Fantasy nun auch wahrlich kein Mangel.
„Lagune“ ist das Werk einer in den USA lebenden Tochter zweier Einwanderer aus dem westafrikanischen Nigeria. Wer jetzt aber glaubt, wie in rund 99,9 % aller Invasionsstories entscheiden sich die Außerirdischen deshalb dafür, entweder in den USA zu landen oder diese gleich „plattzumachen“, der irrt. Nein, das Schiff mit den Fremden geht im Meer vor der nigerianischen Megacity Lagos in Afrika zu Boden, bzw. zu Wasser. Da sind die doch glatt an der Kreuzung, an der das Schild mit der Aufschrift „Hier geht’s nach Washington, der Hauptstadt des Planeten Erde“ steht, falsch abgebogen… Die SF-Romane (und –Filme), in denen die Vereinigten Staaten von Amerika nicht explizit die Hauptrolle spielen, kann ich praktisch an einer Hand abzählen, mir fallen da nur ganz wenige ein: „Die drei Sonnen“ von Cixin Liu aus China, „Sin noticias de Gurb“ des Spaniers Eduardo Mendoza, dann eben „Lagune“ und der Film „The Time Guardian“ aus Australien.
Doch zurück zu Nnedi Okorafors Roman. Er beginnt nicht, wie man annehmen könnte, gleich mit der Einführung der Hauptcharaktere, sondern mit den Gedanken und Gefühlen, welche durch die Landung der Außerirdischen im Meer vor Lagos ausgelöst werden – im Kopf eines Schwertfisches… Wow, mal weder eine globale Versklavung noch eine planetare Zerstörungsorgie, das ist echt mal was anderes…! Die erste Person, die mit den Einheimischen Kontakt aufnimmt, ist die Vorauskundschafterin Ayodele, ein Wesen, das als Katalysator für eine Reihe von Veränderungen steht, die sich innerhalb der Umwelt und der Bevölkerung von Lagos ereignen. Auch das hat mich positiv überrascht. Der plötzlich vernunftbegabte Schwertfisch (der übrigens nun in gereinigtem, nicht mehr durch Öl und Müll verschmutztem Wasser lebt) ist nur eines von vielen, von sehr vielen veränderten Tieren. Auch eine riesige Spinne gehört dazu, obwohl ich aus einigen ihrer Äußerungen zu entnehmen glaube, das diese schon lange, jahrhundertelang unter Lagos lebt. Vielleicht ist sie eine uralte Gottheit, vielleicht auch eine vor langer Zeit bereits mit den Außerirdischen in Kontakt gekommene Wesenheit, ich kann das nicht sagen. Als Gag am Rande endet dann noch ausgerechnet eine durch den Einfluß der Aliens „erleuchtete“ Fledermaus mitten in ihren tiefschürfenden philosophischen Gedanken an der Frontscheibe des Flugzeuges des heimkehrenden nigerianischen Präsidenten – wie schade. Wenigstens konnten die Fremden dem totgeweihten Mann durch ihre überlegene Technik auch wieder zu einem neuen, gesunden Leben verhelfen.
Die schreckliche Umweltverschmutzung, vor allem durch die Ölförderung und den Müll der Milionenmetropole verursacht, wird bereinigt. Krankheiten, Verletzungen, verborgene Fähigkeiten der Lagosianer, all dies verändert sich (meistens) zum Positiven hin – womit allerdings keiner der Besucher gerechnet hat, ist die wahnwitzige Dummheit zum Beispiel der (hier: christlichen) Prediger und ihrer „Follower“. Der ansonsten gut geschilderte Glaube an Hexerei, Geister und lokale Götter wird in „Lagune“ ebenfalls so grotesk übertrieben, das man als Außenstehender wenig mehr tun kann als den Kopf darüber zu schütteln, wie viel Blödsinn die menschliche Rasse anstellen kann. Was das angeht, so müßte draußen an den Grenzen unseres Sonnensystemes eigentlich ein Warnschild vor uns zweibeinigen Irren angebracht werden. Panik und (Atom-)Kriegsvorbereitungen anläßlich von Ufo-Landungen gehören anscheinend ebenfalls zur menschlichen Genetik, das haben wir schon durch die angloamerikanische Science Fiction gelernt.
Nnedi Okorafor gelingt es derart perfekt, das Lokalkolorit und die Atmosphäre von Lagos zu schildern, das ich mich als Leser beinahe so fühlte, als sei ich selbst dort (ich war aber noch nie dort). Auch die diversen Animositäten, welche sich zwischen den verschiedenen Volks- und Sprachgruppen Nigerias abspielen, sind (in meinen Augen) perfekt getroffen, ohne die eine oder andere davon irgendwie über den Tisch zu ziehen. Es entsteht ein Bild einer quirligen, von Kraft und Selbstbewußtsein strotzenden Stadt voller offener und ehrlicher Menschen, die einfach ihr Leben leben. Offen und ehrlich, ja, wenn man mal etwa von dem christlichen Pfarrer absieht, gegen dessen fanatisches Auftreten selbst die religiösen Hetzer von Boko Haram wie die reinsten Kindergartenbetreuer wirken… Doch sei dies nur am Rande erwähnt, da er am Ende ja seine gerechte Belohnung durch die „himmlischen Besucher“ erhält… Gegen diesen Mann Gottes (eher des Geldes) sind selbst korrupte nigerianische Offiziere äußerst vertrauenswürdig und menschenfreundlich.
Wie gesagt, Okorafor spart nicht mit Seitenhieben auf die Fehlentwicklungen innerhalb der nigerianischen Gesellschaft. Alles wird gut, könnte man denken, bis Ayodele, die Botschafterin der Fremden von den Sternen, mißhandelt und erschossen wird. Da heißt, ein Wesen wie sie, das aus miniaturisierten Metallkügelchen besteht (eventuell mitsamt ihres Volkes eine künstliche Intelligenz?) und seine Gestalt wechseln kann, kann man eigentlich nicht töten. Allerdings kann man auch die gutwilligsten der außerirdischen Besucher dazu bringen, einmal die unmenschlichen Nerven zu verlieren und richtig auszuteilen. Die Besatzungsmitglieder von Ayodeles Raumschiff reagieren, genauso wie dann die Afrikaner widerum darauf reagieren, doch Wut und Kampf sind der ungewöhnlichen Situation geschuldet und nicht Teil eines Eroberungsfeldzuges oder Ähnlichem. Alles renkt sich auch wieder ein, wie man so schön sagt.
Ob im Guten wie im Schlechten, das Hauptziel der Sternenwesen war es, Veränderungen zu bewirken, und das haben sie geschafft. Nigeria wird nie wieder dasselbe Land wie vor ihrer Ankunft sein, und Außerirdische, die der Menschheit wirklich auf eine neue, positive Seinsebene auf einem gesundeten Planeten verhelfen wollen, anstatt den Globus zu sterilisieren und selbst zu kolonisieren, die muß man in Zeiten von „Independence Day“ und Ähnlichem wirklich mit der Lupe suchen. Schlußendlich stellt sich heraus, das auch vieles von dem, was unsere drei Helden (eine Wissenschaftlerin, ein berühmter Rapper und ein schwer traumatisierter Soldat) erleben, nicht unbedingt zufällig geschieht.
Fazit: „Lagune“ war eine sehr positive Erfahrung für mich, und ich habe wahrlich schon sehr viel SF gelesen, ganz abgesehen davon, das ich selbst schreibe. Außerdem war es mal sehr erfrischend, daß das Wohl und Wehe der Erde einmal nicht von den USA abhängt und das sich außerirdische Besucher auch so gar nicht für die Vereinigten Staaten interessieren.
Ein Wermutstropfen, der sich jedenfalls für mich persönlich als ziemlich verwirrend erwies, waren die äußerst kurzgefaßten Kapitel (in der Regel lediglich eine bis zwei Romanseiten), die den Lesefluß sehr stark gestört haben. Immer wieder wechselten die Perspektive und/oder der Handlungsort, und das in so kurzen Abständen, das ich kaum in der Lage war, den verschiedenen Handlungssträngen zu folgen und mich dort richtig „einzuleben“. Letztlich hat es aber geklappt. Vielleicht ist diese Einteilung ein spezielles Merkmal von Okorafors Arbeitsweise, möglicherweise liegt dieses Problem aber auch auf Seiten des deutschen Verlages. Ich fühlte mich jedenfalls nicht selten außerstande, die Handlung nachzuvollziehen, dazu bin ich wohl nicht flexibel genug, stöhn.
Wie dem auch sei, „Lagune“ verbindet die afrikanische (hier speziell die nigerianische) Lebenswirklichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen mit einem Realismus, der sich mehr auf das Miteinander der Lebewesen bezieht als auf die Darstellung der militärischen Macht von Menschen oder Außerirdischen. Der Ausblick auf die Zukunft ist grundsätzlich positiv. Und da sich am Ende alle Schwierigkeiten erledigen und zum Guten hin wenden, bin ich versucht, der Prämisse von Ayodeles Volk zu folgen: Veränderung mag manchmal unangenehm oder störend sein, gefährlich auch, doch oft auch notwendig. Stillstand mag beruhigend sein, aber Wachstum kann nur durch Veränderung stattfinden. Ich hoffe, wir Menschen benötigen dazu nicht tatsächlich erst den Anstoß durch Besucher von den Sternen.
Dietmar Doering
Titel: Lagune
Autorin: Nnedi Okorafor
Übersetzerin: Claudia Kern, Coverzeichner: Greg Ruth
Verlag: CrossCult, 2016
ISBN: 978-3-86425-873-2
Mit Glossar, Taschenbuch
410 Seiten